Micro-Houbolt
Autor: Christian Klösch
Studierende aus Wien als Raketenpioniere
Es ist der 25. Juni 2022 nachmittags. Am Flugplatz der „Modell-Flug-Gruppe QUAX Leiblfing-Salching“ bei Straubing in Bayern herrscht reger Betrieb. Das sonnige Wetter hat viele Raketenenthusiasten aus nah und fern angelockt. Ihr Ziel ist es, ihre selbstgebauten Raketen zu starten. Unter ihnen befindet sich auch eine Gruppe junger Studierender vom TU Wien Space Team.
Unter lautem Zischen schraubt sich eine Rakete nach der anderen in die Luft und gleitet an ihren Fallschirmen wenig später wieder zurück auf die Erde. Nicht höher als 1500 Meter dürfen sie fliegen – das ist die Vorgabe der Veranstalter und das ist auch der Sicherheitsabstand zu den benachbarten Häusern. Ein Glück, dass so was in Bayern – ganz im Gegensatz zu Österreich – erlaubt ist. Deshalb nehmen die Wiener:innen die lange Anreise in Kauf, um hier eine ganz besondere Rakete zu testen.

Von Feststoff- zu Flüssigtreibstoffraketen
Während die anderen Teams Feststoffraketen, also etwas komplexere „Silvesterraketen“ starten, will das Wiener Team hier ihre erste Flüssigtreibstoffrakete starten, der sie den Namen „µHoubolt“ (ausgesprochen Micro-Houbolt) gegeben haben.
Der amerikanische Ingenieur John Cornelius Houbolt (1919–2014) war maßgeblich an der Konzeption des Apollo-Mondlandeprogramms der NASA in den 1960er-Jahren beteiligt. Er konzipierte das Mondlandeprogramm und plädierte dafür, dass mit einer Rakete sowohl die Mondlandefähre als auch die Astronautenkapsel transportiert werden sollte und setzte sich gegen viele Widerstände durch: Einfachheit und Beharrlichkeit waren seine Maximen – Tugenden, denen sich auch das TU Wien Space Team bei der Konzeption ihrer Flüssigtreibstoffrakete verschrieben hatte. Die Idee dazu hatten sie schon zwei Jahre zuvor, als sie mit den Feststoffraketen „The Hound“ und „Leonor“ gleich zwei Preise bei der „European Rocket Challenge“ (EuRoC) 2020 gewonnen hatten. Diese Erfolge beflügelte die Ambitionen des Teams: Nun wollten sie mit einer selbstgebauten Flüssigtreibstoffrakete den Weltraum – eine Höhe von 100 Kilometer – erreichen. Damit war das Projekt „Houbolt“ geboren. Zuerst galt es, ein Team zu bilden, das bereit war, neben einem herausfordernden Studium viel Zeit in ein Projekt zu stecken. Dann galt es, Aufgaben und Meilensteine zu definieren und eine möglichst simple und leichte Konstruktion zu finden. Fragen nach der Art des Treibstoffes bis hin zur Zündung und sicheren Betankung stellten sich ebenso wie nach dem Gewicht und der Steuerung der Rakete. Um dabei Erfahrung zu sammeln, war das erste Ziel, eine kleinere funktionsfähige Rakete zu bauen – eine Micro-Houbolt.

Testen, testen, testen
Insgesamt sechs Triebwerkstests führte das Team zwischen November 2021 und Juni 2022 in ihrer Werkstatt in Wien durch, die von der TU Wien zur Verfügung gestellt wurde. Als Treibstoff wählten sie Ethanol und Lachgas, das durch Stickstoff aus Drucktanks in die Brennkammer gepresst, gemischt, zerstäubt und gezündet wird. Nach dem letzten erfolgreichen Triebwerkstest Mitte Juni 2022 waren alle Systeme bereit für einen ersten Start in Bayern.

Erststart – sonnig mit Aussicht auf Windböen
Die Startvorbereitungen verliefen problemlos. Die Startrampe samt Betankungsanlage und die Laptops der „Mission Control“ waren innerhalb weniger Stunden aufgebaut und bereit. Auch das Betanken der Rakete mit Lachgas und Ethanol verlief problemlos. Die Spannung stieg, als sie von der Flugleitung die Startfreigabe erhielten. Einer zählte den Countdown herunter, der Betankungsarm klappte weg, das Triebwerk zündete und baute Schub auf, die Bolzen lösten sich und gaben die Rakete frei. Und schon war sie weg: Nach vier Sekunden waren die Tanks leer und die Rakete glitt mühelos auf die erlaubte 1500 Meter Flughöhe. Man hörte Jubel unter den Schaulustigen und Freudenschreie von Teammitgliedern. Dann begann die Rakete auf die Erde zurückzufallen, der Bremsfallschirm löste zwar aus, doch durch den böigen Wind riss die Leine und die Rakete raste immer schneller dem Erdboden zu. 250 Meter über dem Boden entfaltete sich der große Hauptfallschirm, doch auch seine Leinen rissen und konnten die Rakete nur ein wenig abbremsen, sodass sie am Boden aufschlug und damit Gehäuse und Technik nicht mehr zu gebrauchen waren. Bis auf die Entfaltung des Fallschirms hatte alles perfekt funktioniert. Der Beweis war erbracht, dass Design und Technik funktionierte, doch es war Ende Juni und die Rakete war vollkommen zerstört – das eigentliche Ziel, die Teilnahme an der EuRoc 2022 in Portugal Mitte Oktober, wackelte gewaltig
Durch eine Kraftanstrengung baute das Team über den Sommer eine komplett neue Rakete. Der „Static Fire Test“ in Wien Ende September funktionierte problemlos, sodass die Rakete von den Veranstaltern zum Wettbewerb zugelassen wurde, der vom 11. bis 18. Oktober stattfand. Drei Tage zuvor machten sich ein paar Teammitglieder mit dem Auto und mit einer flugfähigen Rakete samt Startrampe im Gepäck auf den über 2700 Kilometer langen Weg nach Portugal. Der Rest des Teams wählte das Flugzeug.
Als sie mit ihrer Rakete in Portugal ankamen, bemerkten sie, dass sie das einzige Team aus ganz Europa waren, das eine Flüssigtreibstoffrakete an den Start brachte. Dementsprechend war „µHoubolt“ schon die Sensation vor dem Start. Am frühen Nachmittag des 16. Oktober war alles bereit und um genau 14:11 Uhr kam die Freigabe zum Start. Die Betankung und der Countdown verliefen problemlos. Bei „Zero“ zündete das Triebwerk und die Rakete begann ihren Aufstieg, durchstieß die Wolkendecke und verschwand. Die Telemetriedaten wurden weiter empfangen und zeigten, dass die Rakete nach dem Erreichen einer Höhe von 2200 Metern wieder begann, zur Erde zurückzufallen. Dann löste der Computer das Bergungssystem aus, und diesmal funktionierte alles nach Plan. Die Leinen hielten und das Team beobachtete mit zunehmender Euphorie, wie die Rakete am Fallschirm hängend auf einem Hügel in der Nähe sanft niederging. Sie hatten es geschafft. Drei Jahre harte Arbeit mit unzähligen Arbeitsstunden und ebenso vielen versäumten Prüfungsterminen hatte sich ausgezahlt.

Sieg bei der EuRoC 2022
Als erstes europäisches Studierendenteam ist es dem TU Wien Space Team gelungen, eine Flüssigtreibstoffrakete selbst zu konzipieren, zu bauen, zu starten und auch wieder erfolgreich zu landen. Alle – auch die zahlreichen Vertreter:innen der anwesenden Luft- und Raumfahrtbranche – konnten das kleine technische Wunder besichtigen. „µHoubolt“ war nicht nur mit Abstand die technisch komplexeste Rakete, sondern auch eine der leichtesten. Der Namensgeber wäre wohl stolz auf das Team gewesen, das seine Prinzipien – Hartnäckigkeit und Einfachheit – fast in Perfektion verwirklicht hatte. Dass das Team den „Flight Award der Flüssigantrieb-3km-Klasse“ gewann, war fast schon Nebensache, denn kein anderes Team konnte eine funktionsfähige Rakete an den Start bringen. Wer möchte, kann die Rakete jederzeit nachbauen, denn die Baupläne stellt das TU Wien Space als Open Source auf ihrer Website zur Verfügung.
Der Erfolg spornte das Team an, weiterzumachen und den nächsten Meilenstein auf den Weg ins Weltall anzuvisieren. Ihr Ziel ist es nun, aus einer Mikro- eine Mini-Rakete zu machen: Statt drei Kilometer wagen sie sich nun auf die Höhe von neun Kilometern – mit einem komplett neuen Team und einer neuen Rakete, aber mit der Erfahrung und dem Geist von „µHoubolt“. Die „Neue“ heißt jetzt „Lamarr“, benannt nach der austro-amerikanischen Schauspielerin und Erfinderin Hedy Lamarr (1914–2000) und wird nun angetrieben durch Ethanol und flüssigen Sauerstoff. Wenn alles klappt, geht sie bei der EuRoC 2025 an den Start.

„µHoubolt“ im Technischen Museum Wien
Einige aus dem „µHoubolt“-Team machten aus ihrem Hobby ein Start-up: Als „GateSpace“ entwickeln sie am „ESA Phi-Lab Austria“ am Flughafen Wien-Schwechat nun chemische Antriebssysteme für Satelliten. 2026 werden diese Triebwerke dann zum ersten Mal in den „echten“ Weltraum starten. „µHoubolt“, „Leonor“ und ein erster Triebwerksentwurf von „Gate Space“ haben nun ein neues Zuhause gefunden: Geschützt durch eine Glasvitrine sind die Raketen und das Triebwerk in der Dauerausstellung des Technischen Museums Wien zu sehen. „µHoubolt“ ist als erste jemals in Österreich konzipierte und gebaute Flüssigtreibstoffrakete ein Symbol dafür, was man alles durch Hartnäckigkeit, Innovationskraft, Enthusiasmus und Teamwork als Studierender in Österreich erreichen kann.